Italien und der deutsche Hohn

Die Suddeutsche Zeitung veröffentlicht den Artikel "Italien und der deutsche Hohn" von Thomas Steinfeld, einem Langstreckenjournalisten und seit Januar 2014 SZ-Korrespondenten in Venedig. Wir schlagen die Version des Artikels vor, der auf der Website der Zeitung erschienen ist.
Aus dem Artikel kommt Italien ohne Fleisch, mal sehen, ob es falsch oder richtig ist.

Italien und der deutsche Hohn 

Zerstört sich Italien gerade selbst? Aus deutscher Perspektive sieht das für viele so aus. Doch nicht für die Italiener.

Von Thomas Steinfeld

Dass es ein Europa der Verlierer gibt, ist spätestens seit Beginn der sogenannten Finanzkrise offenbar, also seit etwa zehn Jahren. Seit dieser Zeit wächst der Reichtum der Staaten, die in der gemeinsamen europäischen Währung zusammengeschlossen sind, nur noch wenig, verglichen jedenfalls mit China oder den Vereinigten Staaten. Das schien vorher anders gewesen zu sein: Solange es insgesamt ein nennenswertes Wachstum gegeben hatte, hatte ein jeder Staat in der Gemeinschaft wachsen können, manche mehr, andere weniger.

Seitdem aber kaum noch etwas wächst, kann nur noch gewinnen, wer es auf Kosten anderer tut. Verlierer und Gewinner treten erkennbar auseinander, und sie tun es umso deutlicher, je strikter die einen wie die anderen auf dieselben Regeln des Wettbewerbs verpflichtet sind. Wenn dann eine Nation immer zu den Verlierern gehört, Jahr um Jahr: Wie groß kann dann die Überraschung sein, wenn sich dieses Land nicht mehr auf die Regeln festlegen lassen will - oder sogar davon träumt, den Wettbewerb zu verlassen? In dieser Lage befindet sich, seit den jüngsten Wahlen, die drittgrößte Volkswirtschaft in der Währungsunion: Italien.

Das Land habe "zehn Jahre Wettbewerbsfähigkeit" vernachlässigt, behauptete jüngst Hans-Werner Sinn, einer der bekanntesten deutschen Wirtschaftswissenschaftler. Aus Italien betrachtet, sehen die Gründe für das Scheitern anders aus. Denn dort stellt sich die Geschichte des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Kette großer Anstrengungen dar, eben jene Fähigkeit zum Wettbewerb - die sich an den Erfolgen der Länder im Norden und vor allem an denen Deutschlands misst - zu erwerben. Diese Geschichte begann mit der Bildung gewaltiger staatlicher Konzerne in den Schlüsselindustrien (Stahl, Chemie, Energie, ein Erbe der faschistischen Wirtschaftspolitik) und der massiven Förderung des armen, landwirtschaftlich geprägten Südens nach dem Zweiten Weltkrieg. Italien, so viel war nicht nur im eigenen Land klar, sollte zu den großen Industrienationen der Welt gehören.

Ein wüstes Durcheinander aus Enttäuschung, Betrugsvorwürfen und Rassismus

Diese Geschichte führte schließlich zur Teilhabe an der Gemeinschaftswährung, die, von Italien gewollt und vorangetrieben, das entscheidende Mittel hätte werden sollen, um alle vorausgegangenen Nachteile im Wettbewerb auszugleichen: dadurch, dass Italien Zugang zur Kreditwürdigkeit der ganzen Gemeinschaft erhielt, zu niedrigen Zinsen, in einem Umfang, wie sie dem Land für sich allein nie gewährt worden wären. 70 Jahre hatte der Wille zur Behauptung als große, international erfolgreiche Nation Bestand. Jetzt ist er zumindest infrage gestellt, in einem wüsten Durcheinander aus Enttäuschung, Betrugsvorwürfen und Rassismus.

Dass diese Pläne nicht aufgingen, dass vielmehr der italienische Staat die Konzerne weiterbetrieb, ließ in den Sechzigern und Siebzigern das Fundament einer Staatsschuld entstehen, die dann später, von den frühen Achtzigern an, eskalierte. Und als die Betriebe schließlich zerschlagen und zu großen Teilen privatisiert wurden, als die Subventionierung des Südens eingestellt wurde und die Zentralregierung einen großen Teil ihrer Verbindlichkeiten an die Regionen und Kommunen weitergab, da wurde nicht nur rationalisiert, sondern zugleich eine Infrastruktur zerstört, die noch funktioniert hatte, wie schlecht auch immer. Die Ruinen gelten nun als Belege einer typisch italienischen Misswirtschaft, während sie eigentlich etwas anderes sind: Projektionen einer Zukunft, die sich nicht einstellte.

Die Geschichte der immer wieder von neuem begonnenen Versuche der Nation, einen über die Grenzen hinweg geführten Wettbewerb für sich zu entscheiden, lässt sich an der italienischen Landschaft ablesen, anhand von Industrieruinen. Die Petrochemie in Marghera, das Stahlwerk in Tarent, die Raffinerien von Brindisi: Sie alle (und etliche ähnliche Anlagen) sind Monumente gigantischer, aber mehr oder minder gescheiterter Bemühungen, unter staatlicher Aufsicht Industriebetriebe entstehen zu lassen, die es nach Größe und Leistungsfähigkeit mit Thyssen oder Krupp, mit Usinor oder British Steel aufnehmen könnten. Viele dieser Fabriken wurden, um der wirtschaftspolitisch unerträglichen Differenz zwischen dem Norden und Süden Italiens entgegenzuwirken, im wenig produktiven Süden angesiedelt.

Die jüngste Anstrengung, im Wettbewerb mit den reichen Ländern des Nordens zu bestehen, die Teilhabe am Euro also, scheint sich nun als der letzte Versuch zu erweisen, in der Konkurrenz der großen Nationen zu überleben: Der Zugang zum gemeinsamen Kredit zog die Verpflichtung auf einen Wettbewerb zu gleichen Bedingungen nach sich - während der Ballast der vergangenen Jahrzehnte, die Staatsschuld, immer noch gegenwärtig war. Das Land hätte mit dem neuen Geld von Grund auf renoviert werden sollen. Das Gegenteil trat ein: Im unmittelbaren Vergleich der Produktivkräfte setzte sich das überlegene Kapital durch. "Der europäische Ordoliberalismus", sagt dazu der Volkswirtschaftler Sergio Cesaratto von der Universität Siena, sei eine "Form des Nationalismus der dominierenden wirtschaftlichen Macht" (Sergio Cesaratto: Chi non rispetta le regole? Imprimatur Editore. Reggio Emilia, April 2018) - so wird in Italien wahrgenommen, was in Deutschland als spezifisch italienische Unfähigkeit gilt.

So kam der Grundwiderspruch der Europäischen Union zur vollen Entfaltung: dass sich zwei Dutzend gegeneinander konkurrierende Staaten zusammengeschlossen hatten mit dem Ziel, gemeinsam den jeweils individuellen Vorteil zu suchen. Im Automobilmuseum von Turin ist eine große Karte zu sehen, auf der mit Leuchtpunkten alle Orte in der Stadt markiert sind, an denen einst Betriebe dieser Branche arbeiteten. Was früher einem Sternenhimmel geglichen haben muss, ist heute finster. Ähnliche Karten ließen sich längst für ganz Italien und für viele Branchen anlegen, für die Hersteller von Haushaltsmaschinen (Zanussi, Merloni) oder von Bürogeräten (Olivetti), für die Möbelindustrie ebenso wie für die Hersteller von Musikinstrumenten. In den Jahren nach Beginn der sogenannten Finanzkrise sank die Industrieproduktion Italiens um etwa ein Fünftel. Eine Million Arbeitsplätze wurden vernichtet. Man mache sich nichts vor: Irgendwo muss sich der Außenhandelsüberschuss von Staaten wie vor allem Deutschland niederschlagen. Seit 2015 wächst die Industrieproduktion wieder, mit ein bis zwei Prozent pro Jahr. Mittlerweile hat sie das Niveau der späten Neunziger erreicht.

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