Berlin ist mehr als Geld und Gier
Die Bauspekulation der letzten zwanzig Jahre hat die urbane und soziale Struktur der deutschen Hauptstadt auf den Kopf gestellt. Gianluca Vallero, der seit über 30 Jahren als Journalist und Filmemacher in Berlin lebt, porträtiert er in seinem Film "The Woddafucka Thing” eine Hauptstadt, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht zur Ruhe kommt.
Was sich Anfang der 1990er Jahre noch als anarchistische, revolutionäre und alternative Stadt im vereinten Deutschland bezeichnen konnte, ist dabei, diese Identität nach und nach zu verlieren. Stattdessen gibt sie sich einem ungezügelten Kapitalismus hin, der nicht nur ihr Gesicht, sondern leider auch ihre Seele verändert. Die Privatisierung großer Teile des öffentlichen Grundbesitzes und kommunaler Unternehmen begann nach dem Fall der Mauer. Anfang der 2000er Jahre wurde dies von einer rein linken (!) Koalition im großen Stil weitergeführt und hat zu einer heftigen Immobilienspekulation geführt.
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Große Immobiliengesellschaften haben massenhaft aufgekauft, sich dadurch regelrecht in einer der damals billigsten Hauptstädte Europas eingenistet und durch überhöhte Miet-, Waren- und Dienstleistungspreise eine unaufhaltsame Gentrifizierung ausgelöst. In den letzten zwanzig Jahren hat dieser Prozess die urbanen und sozialen Strukturen Berlins nachhaltig verändert und ganze Bevölkerungsschichten gezwungen, die Innenstadt zu verlassen und in die weniger attraktiven Randgebiete der Stadt zu ziehen.
Die Folgen dieses Wandels haben mich schon immer interessiert, sowohl als Journalist wie auch als Filmemacher. Durch meine jahrelange Arbeit als Radioreporter habe ich mit vielen Menschen gesprochen, die große Schwierigkeiten hatten, sich in die komplexe sozioökonomische Landschaft Berlins zu integrieren: Erfahrungen, die mitunter tragisch, komisch, surreal, verwirrend sind. Es wäre schade, von ihren Erlebnissen nur zu lesen oder in Radiobeiträgen zu hören.
Aus diesem Grund hatte ich das Bedürfnis und den Wunsch, Filme zu drehen und einige der außergewöhnlichen Persönlichkeiten, denen ich in diesen Jahren begegnet bin, auf die Leinwand zu bringen. Die Stadt schien mir der ideale Schauplatz, um diesen menschlichen Schicksalen eine neue Dimension zu verleihen. Denn das filmische Bild fügt jeder anderen Form der Erzählung etwas Einzigartiges hinzu: Es "fixiert die Zeit ohne jede Vermittlung", wie Andreij Tarkovskij in seinen Regie-Masterclasses und in “Die versiegelte Zeit” ausführte. Für ihn ist dies der Grund, der Menschen ins Kino treibt: Die Suche nach der Zeit – der verschwendeten, der verlorenen oder der noch nicht erreichten Zeit. Mit der Absicht, die Zeit in ihrem sozio-historischen Kontext zu erfassen und sie durch Bilder reproduzierbar zu machen, wollte ich meinen neuen Film "The Woddafucka Thing" drehen.
Meine Protagonisten sind meist Ausländer oder haben einen Migrationshintergrund und sind in Berlin manchmal ein wenig verloren. Sie begegnen den Schwierigkeiten des Alltags gradlinig und mit viel Phantasie, die einzige Waffe, die ihnen zur Verfügung steht. Sie sind naive Träumer, die ums Überleben kämpfen und versuchen, der bürgerlichen Konformität und den erstickenden Regeln der Marktwirtschaft zu entkommen. Sweety, Gino und Ninja, ewige Außenseiter, vom Pech verfolgt, in den Adern ein wenig Robin Hood. Auch sie sind Opfer der Immobilienspekulation und erleben unmittelbar die Auswirkungen des rücksichtslosen Zynismus, der auf dem aktuellen Wohnungsmarkt herrscht.
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Seit der Jahrtausendwende wird die deutsche Hauptstadt zum Mythos hochstilisiert und von den Medien als eine Art Spielzeugland, aber auch als Investitionsparadies, als ein Ort fürs schnelle Geld verkauft. Und das war es ja auch lange Zeit. Die unbequeme Wahrheit: Berlin ist zu einer Stadt geworden, in der schlecht bezahlte Jobs den steigenden Lebenshaltungskosten nichts mehr entgegenzusetzen haben. Eine immer mühsamere und bürokratischere Metropole, in der es Wohnungen nur noch zu horrenden Preisen und ohne Beziehungen schon gar nicht gibt.
Berlin verliert allmählich seine ursprüngliche Identität, als Opfer der Logik eines ungezügelten Kapitalismus
Der Preis für ein WG-Zimmer liegt zwischen 500 und 700 Euro im Monat, die Miete für Gewerberäume hat sich innerhalb weniger Jahre fast verdreifacht. Wer in Berlin ohne berufliche Spezialisierung landet oder nicht zu den vielgesuchten Fachkräften der hippen Digital-Szene gehört und kaum Deutsch spricht, kommt mit Schwarzarbeit über die Runden – oder im besten Fall mit dem Mindestlohn. Und manchmal ist es besser, für den Staat unsichtbar zu bleiben und so neben den Steuern auch die Beiträge für die Kranken-und Rentenversicherung zu sparen.
Die andere Möglichkeit ist nur, Unterstützung aus der Sozialkasse zu beantragen und buchstäblich jeden Cent zweimal umzudrehen. Die "The Woddafucka Thing" porträtierten Menschen bewegen sich in diesem brodelnden, urbanen Untergrund, der sich immer weiter ausdehnt und in dem ihnen das Wasser bereits bis zum Hals steht. Sie zahlen die Konsequenzen eines Systems, in das sie nicht hineinpassen und das sie auch nicht kontrollieren können. Obwohl ein wenig unbedarft – aufgeben ist für sie keine Option.
Sie haben große Energie und hegen die ewige Hoffnung, dass früher oder später auch ihr Blatt sich wandeln wird. Wo es für sie etwas rauszuholen gibt, da schauen sie hin, durchaus mit kriminellem Instinkt, aber nie ohne Respekt. Was sie jedoch am meisten adelt und erlöst, ist ihre menschliche Dimension, die Überzeugung, dass jeder Mensch immer etwas Gutes zu bieten hat, und sei es nur ein Gefühl der Dankbarkeit, vielleicht sogar das Angebot einer Freundschaft. Sie sind es, die meiner Meinung nach die alte, rebellische Seele Berlins verkörpern, die langsam verschwindet. Multikulturelle Künstler, Maurer, Intellektuelle, Kellner und Bohèmiens, die seit den 1960er Jahren und bis ins neue Jahrtausend hinein nach Berlin gekommen waren.
Sie wollten ihr Leben neu gestalten – und nicht nur überleben. Dass die starre deutsche Gesellschaft aufgerüttelt wurde, lag auch an diesen Menschen. "The Woddafucka Thing", dieses verdammte Ding, das ich über Berlin erzählen wollte, in Schwarz-Weiß, voll mit "verschwendeter" "verlorener" oder "noch nicht erreichter;" Zeit, ist nichts anderes als dies. Alles andere ist einfach nur Kino.
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Gianluca Vallero ist Regisseur und Synchronsprecher für Film und Fernsehen. Zwischen 1992 und 2003 arbeitete er als Journalist und veröffentlichte Artikel in italienischen und schweizerischen Zeitungen, darunter Il Manifesto und Il Giornale del Popolo, und sendete Reportagen in öffentlich-rechtlichen Radiosendern in Deutschland. Im Jahr 2003 nahm er als Regieassistent von Gianni Amelio an der Filmproduktion ;The Keys to the House; teil. Mit seiner FirmaFinimondo Productions drehte er mehrere Kurzfilme und einen Dokumentarfilm. The Woddafucka Thing ist sein erster Spielfilm, der seine Weltpremiere auf dem Filmfest Bremen 2023 mit dem 1. Preis der Jury für den besten deutschsprachigen Film feierte.